Je länger Lillit der Spur folgte, desto dichter wurde der Wald um sie herum. Der sanfte Wind, der sie seit der Schlucht der Stille begleitet hatte, verwandelte sich langsam in ein unheimliches Rauschen. Die Luft wurde schwerer, und der Himmel über ihr zog sich zusammen, als ob er die Dunkelheit herbeirufen wollte.
Der erste Schneeflockenwirbel erreichte sie plötzlich, und die Spur wurde schwerer zu erkennen. Doch Lillit ließ sich nicht beirren. Sie senkte ihre Nase, konzentrierte sich auf den Geruch des Waldes und setzte ihren Weg fort. Der Wind wurde immer lauter und die Bäume um sie herum begannen zu ächzen.
Ein ohrenbetäubendes Heulen riss Lillit aus ihrer Konzentration. Der Wind tobte nun wie ein gewaltiger Sturm und nahm plötzlich Gestalt an. Vor ihr formte sich aus den aufgewirbelten Schneemassen ein Schatten. Er hatte keine klar erkennbare Form, doch seine Augen starrten sie aus der Dunkelheit an.
Lillit blieb stehen, ihre Pfoten fest auf den Boden gedrückt, um nicht zurückzuweichen. Der Schatten wirkte bedrohlich, doch etwas an ihm fühlte sich bekannt an – es war der gleiche dunkle Hauch, den sie in ihrer Vision auf der Gläsernen Lichtung gesehen hatte.
„Du hast es weit geschafft, kleiner Hund“, sprach der Schatten. Seine Stimme fegte wie ein kalter Windstoß durch den Wald. „Doch nicht jeder ist bereit, dem wahren Winter zu begegnen. Zeige mir, ob du stark genug bist.“
Bevor Lillit etwas erwidern konnte, begann der Schatten sie zu umkreisen. Der Schnee wirbelte um sie herum, und sie spürte die eisige Kälte, die durch ihr Fell drang.
Der Wind wurde stärker, wurde zu einem Sturm, und Lillit musste sich tief ducken, um nicht umgestoßen zu werden. Doch inmitten des Chaos hörte sie etwas – ein leises, rhythmisches Rauschen. Es war nicht der Sturm, der dieses Geräusch verursachte, sondern etwas anderes. Etwas, das ihr bekannt vorkam.
„Hör zu“, murmelte sie zu sich selbst. „Konzentriere dich.“
Der Wind und die Kälte setzten ihr zunehmend zu, doch sie ließ sich nicht von ihnen ablenken. Stattdessen konzentrierte sie sich auf das nun stärker werdende Rauschen. Sie erkannte, dass es aus einer bestimmten Richtung kam, und begann, sich darauf zuzubewegen. Es brauchte all ihre Kraft und sie konnte sich nur auf dem Boden robbend fortbewegen.
Der Wind war inzwischen so stark, dass sie sich nicht aufrichten konnte und die Kälte ließ ihre Pfoten taub werden. Sie stellte sich vor, wie sie zu Hause vorm Kamin lag, in ihrem warmen Körbchen. Ihre Gedanken ließen sie sich etwas wärmer fühlen, während sie sich weiter voran kämpfte.
Doch je näher sie dem Rauschen kam, desto schwächer wurde der Sturm. Der Schatten zog sich zurück, sein Heulen wurde leiser. Plötzlich fand Lillit sich in der Mitte des Sturmes wieder. Hier war der Schnee unberührt und es war still, während der Sturm wie eine Wand um sie kreiste. In der Mitte des Kreises schimmerte etwas – eine kleine, pulsierende Lichtquelle, die wie ein Herzschlag im Schnee glühte.
Lillit näherte sich vorsichtig. Es war nicht das Herz des Winters, doch es fühlte sich bedeutungsvoll an. Als sie ihre Nase näher brachte, spürte sie eine sanfte Wärme, die ihre Zweifel und Ängste wegwischte. Der Sturm wurde schwächer und schien sich aufzulösen. Sie hatte die Prüfung bestanden.
Der Schatten erschien erneut, doch diesmal war er kleiner, weniger bedrohlich. „Du hast bewiesen, dass du den Sturm überstehen kannst“, sagte er mit einer tieferen, ruhigeren Stimme. „Doch der wahre Winter erwartet dich noch.“
Mit diesen Worten löste sich der Schatten auf und ein neuer Pfad führte in eine tiefere Dunkelheit, wo kein Licht zu sein schien.
Lillit atmete tief durch und setzte ihren Weg fort, gespannt, was die nächste Prüfung für sie bereit hielt.