Der Pfad, der sich vor Lillit öffnete, war anders als alles, was sie bisher gesehen hatte. Der Schnee unter ihren Pfoten schimmerte in einem hellen, reinen Licht und die Luft war so klar, dass sie das leise Knistern der Eiskristalle hören konnte. Die Spur des Hüters war verschwunden, doch sie spürte, dass sie nun von etwas viel Größerem geleitet wurde.
Der Weg führte sie zu einer riesigen Lichtung, umgeben von uralten Bäumen, deren Äste wie kristallene Arme in den Himmel ragten. In der Mitte dieser Lichtung war eine Art Podest mit einem schimmernden Kristall. Das Licht, das von ihm ausging, schien zu pulsieren wie ein Herzschlag. Doch es wirkte schwach, als ob es nur noch einen Bruchteil seiner wahren Kraft besäße.
„Das muss es sein. Das Herz des Winters,” flüsterte Lillit.
Sie trat näher an den Kristall heran und spürte die Wärme, die von ihm ausging. Doch genau wie das Licht wirkte diese Wärme schwächer, als sie sein sollte. Wie eine flackernde Kerze im Wind.
Lillit erinnerte sich an die Vision, die sie auf der gläsernen Lichtung gesehen hatte: Wie der Schatten das Herz gestohlen und sich daraufhin die Dunkelheit im Wald ausgebreitet hatte. Dieser Kristall war das Herz und der Ursprung der Magie, ohne es würde der Winterwald sterben.
Doch bevor Lillit ihren Gedanken zuende fassen konnte, verdunkelte sich der Himmel über ihr. Eine eisige Böe fuhr durch die Lichtung und vor dem Herz des Winters formte sich eine dunkle Gestalt. Es war der Schatten, den sie bereits aus ihrer Vision kannte – groß, formlos und erfüllt von einer bedrohlichen Energie.
„Du wagst es, hierherzukommen?“, donnerte die Stimme des Schattens. „Das Herz gehört mir. Du wirst es nicht zurückholen.“
Lillit nahm all ihren Mut zusammen und erwiderte: „Der Wald braucht mich. Ich werde nicht zulassen, dass du seine Magie zerstörst!“
Der Schatten lachte und die Dunkelheit begann, die Lichtung zu verschlingen. Die Bäume, die eben noch strahlten, wurden von der Finsternis erfasst und die Kälte kroch Lillit bis in die Knochen. Doch sie erinnerte sich an alles, was sie auf ihrer Reise gelernt hatte – die Prüfungen, die sie bestanden hatte und die Lektionen.
„Die Dunkelheit gehört genauso zum Wald wie das Licht!“ rief sie in die Dunkelheit. „Ich werde das Herz dorthin zurückbringen, wo es hin gehört. Du kannst mich nicht aufhalten!“
Mit diesen Worten trat sie näher an den Kristall heran, die Dunkelheit drohte, sie zu verschlingen. Ihre Instinkte schrien sie an, umzudrehen, zu fliehen. Auch der Schatten brüllte und griff nach ihr, doch Lillit blieb standhaft. Sie wusste, dass die Zukunft des Winterwaldes auf dem Spiel stand.
Das Herz des Winters schien nach ihr zu rufen, als ob es ihre Entschlossenheit spüren konnte. Es kostete sie all ihre Kraft, sich gegen ihre Instinkte und die Dunkelheit zu wehren und weiter zu gehen. Doch mit jedem Schritt wurde es einfacher, die Wärme und das Licht des Kristalls gaben ihr Mut und ein Ziel.
Nach Minuten, die sich wie Stunden angefühlt hatten, erreichte sie endlich das Podest mit dem Herz des Winters.
Lillit legte vorsichtig ihre Pfote auf den Kristall. Kaum hatte sie ihn berührt, durchströmte sie eine unglaubliche Wärme und vor ihren Augen spielten sich Szenen ab. Sie konnte nichts erkennen, es war mehr ein Gefühl des Verstehens. Das Herz des Winters trug all die Magie des Waldes in sich: Die Kälte, die Wärme, das Licht, die Dunkelheit, die Stimmen und die Stille. Alles war eins und Lillit war ein Teil davon.
Das Licht des Kristalls wurde heller und der Schatten schrie vor Wut. Die Dunkelheit begann sich zurückzuziehen, als ob sie von dem Licht verdrängt würde. Doch bevor er verschwand, sprach der Schatten mit einer leisen, kalten Stimme: „Du hast heute gewonnen, kleiner Hund. Der Winter hat viele Geheimnisse und nicht alle sind so rein, wie sie scheinen.“
Mit diesen Worten löste sich der Schatten auf und die Lichtung wurde wieder still.
Das Herz des Winters leuchtete nun in voller Kraft. Der Wald um sie herum erwachte wieder zum Leben – die Bäume begannen zu glitzern, der Schnee reflektierte das Licht und die Luft war erfüllt von einem sanften Summen. Die Magie war zurückgekehrt.