Lillit setzte ihren Weg fort, die Spuren des Hüters immer im Blick. Nach der Vision auf der Gläsernen Lichtung fühlte sie sich entschlossener, auch wenn die Bilder in ihrem Kopf sie nicht losließen: Der Schatten, das gestohlene Herz des Winters, die verborgene Eistür. Was für ein Geheimnis lag dahinter, und wer war die Gestalt, die das Herz an sich genommen hatte?
Der Wald um sie herum begann erneut, sich zu verändern. Die Bäume wurden größer, ihre Äste mit glitzernden Eiskristallen bedeckt, die im sanften Licht funkelten. Die Luft wurde noch kälter und Lillits Atem bildete kleine Wolken vor ihrem Gesicht. Die Spuren führten sie zu einem neuen Ort, der wie aus einem Märchen wirkte.
Vor ihr erhoben sich zwei gigantische Türme aus glattem, schimmerndem Eis. Sie waren so hoch, dass ihre Spitzen in den Wolken verschwanden. Zwischen ihnen stand ein Tor, dessen Oberfläche mit frostigen Mustern bedeckt war, die sich zu bewegen schienen, als ob sie lebendig wären.
Lillit näherte sich vorsichtig dem Tor, doch bevor sie es berühren konnte, erklang eine tiefe Stimme. „Halt! Wer wagt es, die Türme aus Frost zu betreten?“
Lillit drehte sich um und sah zwei mächtige Kreaturen, die aus den Türmen herausgetreten waren. Sie waren groß, mit schuppiger Haut, die wie Eis glitzerte, und hatten breite Flügel, die sie majestätisch ausbreiteten. Ihre Augen leuchteten, einer in einem kalten Blau, der andere in einem tiefen Violett.
„Ich bin Lillit Schnüffelnase,“ sagte sie, ihre Stimme so fest wie möglich. „Ich suche das Herz des Winters.“
Die Kreaturen tauschten Blicke, bevor der mit den blauen Augen sprach. „Das Herz des Winters ist verloren, kleiner Hund. Niemand außer dem Hüter hat das Recht, diese Türme zu durchqueren.“
„Aber der Hüter hat Spuren hinterlassen,“ entgegnete Lillit mutig. „Und ich folge ihnen. Der Wald hat mich gerufen, und ich werde nicht aufgeben.“
Die violette Kreatur schnaubte, ihr Atem bildete eine frostige Wolke. „Du bist mutig, das muss man dir lassen. Aber Mut allein reicht nicht. Du musst beweisen, dass du die Kälte des Winters ertragen kannst.“
„Die Kälte?“ fragte Lillit und spürte, wie ein Schauer über ihren Rücken lief und ihre Nackenhaare sich aufstellten.
Die blaue Kreatur nickte. „Der Winter ist unerbittlich, doch er belohnt jene, die ihn respektieren. Du wirst eine Prüfung bestehen müssen, um durch das Tor zu gehen.“
Die violette Kreatur hob eine Klaue, und der Boden unter Lillits Pfoten begann zu glühen. Um sie herum formte sich ein Kreis aus Eis, und die Luft wurde noch kälter. „In diesem Kreis wirst du stehen bleiben,“ erklärte die Kreatur, „bis du die Kälte in deinem Herzen akzeptiert hast. Widerstehe ihr nicht, sonst wird sie dich überwältigen.“
Lillit schluckte schwer, doch sie trat in den Kreis. Kaum hatte sie den letzten Schritt gemacht, spürte sie, wie die eisige Luft sie umhüllte. Es war, als würde der Frost durch ihre Pfoten in ihren Körper kriechen. Sie wollte weglaufen, doch die Spuren des Hüters waren auf der anderen Seite des Tors. Sie wusste, dass sie nicht aufgeben durfte.
„Du kannst das,“ flüsterte sie zu sich selbst. Sie dachte an die Gläserne Lichtung, an die Vision des Herzens und die Stimmen im Labyrinth. All diese Prüfungen hatte sie überstanden, weil sie an sich geglaubt hatte. Jetzt musste sie es wieder tun.
Die Kälte wurde stärker, und Lillit schloss die Augen. Sie ließ sich nicht von der Angst überwältigen, sondern konzentrierte sich auf die Wärme in ihrem Inneren – die Erinnerungen an ihr Zuhause, an die leuchtenden Bäume des Waldes, an die Wesen, die auf sie zählten. Langsam begann sie, die Kälte nicht mehr als Feind zu sehen, sondern als einen Teil des Winters, der sie umgab.
Plötzlich spürte sie, wie die Kälte nachließ. Sie öffnete die Augen und sah, dass der Kreis verschwunden war. Die beiden Kreaturen nickten ihr zu, ihre Augen glühten respektvoll.
„Du hast die Prüfung bestanden,“ sagte die blaue Kreatur. „Der Winter hat dich akzeptiert.“
Die violette Kreatur schwang eine Klaue, und das frostige Tor öffnete sich mit einem tiefen Grollen. Dahinter führte der Weg weiter, und die Spuren des Hüters warteten auf Lillit.
„Geh,“ sagte die violette Kreatur. „Doch sei gewarnt: Die Prüfungen werden härter.“
Lillit nickte und schritt mutig durch das Tor. Hinter ihr schloss es sich mit einem donnernden Schlag. Der Weg vor ihr war dunkel und geheimnisvoll, doch sie wusste, dass sie näher an das Herz des Winters herankam – und an die Wahrheit über den Schatten, der es genommen hatte.