Glimmering River

Der Fluss aus Zeit

Das Tor der Türme aus Frost lag hinter Lillit, und die Welt vor ihr schien sich noch tiefer in Magie zu hüllen. Der Wald war hier anders – die Bäume wirkten älter, ihre Stämme von Eis und Zeit gezeichnet, als hätten sie Jahrhunderte überdauert. Es war still, so still, dass Lillit ihre eigenen Schritte im Schnee fast wie ein Echo hörte.

 

Die Spuren des Hüters führten sie zu einem schmalen Pfad, der schließlich zu einem glitzernden Fluss aus Eiswasser führte. Doch dies war kein gewöhnlicher Fluss. Das Wasser floss träge, und in seiner Oberfläche spiegelten sich nicht nur die Bäume und der Himmel, sondern auch Bilder. Lillit blieb stehen, um genauer hinzusehen, und hielt den Atem an.

 

Im Wasser sah sie Erinnerungen – zuerst ihre eigenen. Bilder von ihr, wie sie in der warmen Stube lag, vor dem Kamin, während ihr Frauchen leise vor sich hin summte. Doch dann veränderten sich die Bilder. Sie sah sich selbst im Wald, auf der Gläsernen Lichtung, wie sie den Kristall berührte. Es war, als ob der Fluss die Zeit selbst in sich trug.

 

„Dies ist der Fluss aus Zeit,“ erklang eine leise Stimme. Lillit drehte sich um und sah ein Wesen, das halb durchsichtig war, als wäre es aus dem Nebel des Waldes geformt. Es hatte die Gestalt eines Rehs, doch seine Augen waren leuchtend weiß, und in seinem Geweih schimmerten winzige Sterne. „Nur jene, die den Fluss überqueren können, dürfen weitergehen.“

 

„Wie soll ich das tun?“ fragte Lillit. Der Fluss wirkte ruhig, doch sie spürte die Kraft, die in ihm lag. Er war mehr als nur Wasser – er war eine Barriere, eine Prüfung.

 

Das Reh neigte den Kopf. „Um den Fluss zu überqueren, musst du dich deiner eigenen Vergangenheit stellen. Schau hinein und erkenne, was du zurückgelassen hast. Nur wer die Wahrheit akzeptiert, kann die andere Seite erreichen.“

Lillit blickte auf die träge fließende Oberfläche. Die Bilder veränderten sich erneut. Sie sah Momente, die sie längst vergessen hatte – als Welpe, wie sie ängstlich in einer Ecke gekauert hatte, bevor sie von ihrem Frauchen gerettet wurde. Sie sah ihre ersten Abenteuer, ihre Fehler, ihre Zweifel.

 

Eine Welle von Gefühlen überkam sie. Es war nicht leicht, diese Bilder zu sehen, doch sie verstand, was der Fluss von ihr wollte. Sie musste diese Erinnerungen nicht verdrängen – sie musste sie annehmen.

„Ich bin bereit,“ sagte sie schließlich.

 

Das Reh nickte und trat zur Seite. „Dann tritt auf das Wasser.“

Die Überquerung des Flusses

Lillit setzte vorsichtig eine Pfote auf die glitzernde Oberfläche. Sie erwartete, dass sie einsinken würde, doch das Wasser fühlte sich fest an, wie eine glatte, kalte Brücke. Mit jedem Schritt sah sie neue Bilder – nicht nur aus ihrer eigenen Vergangenheit, sondern auch aus dem Wald. Sie sah den Hüter, dessen Gestalt nur als schimmernder Umriss zu erkennen war, wie er das Herz des Winters an einem sicheren Ort bewahrte.


Doch plötzlich sah sie wieder den Schatten, der das Herz stahl. Die Gestalt war deutlich klarer als zuvor – es war kein Tier, kein Mensch, sondern etwas Dunkles, Formloses, das wie ein lebendiger Sturm wirkte. Es bewegte sich schnell und verschwand durch die Eistür, die Lillit in ihrer Vision gesehen hatte.


Als sie die andere Seite des Flusses erreichte, war sie außer Atem, doch sie fühlte sich stärker. Das Reh trat erneut vor sie, sein Blick ruhig und wissend.


„Du hast dich der Wahrheit gestellt,“ sagte es. „Doch die Dunkelheit, die du gesehen hast, ist nur ein Teil des Rätsels. Du bist dem Hüter näher, aber dein Weg wird gefährlicher.“


Bevor Lillit etwas sagen konnte, verblasste das Reh und löste sich in den Nebel auf. Die Spuren des Hüters setzten sich vor ihr fort, und sie wusste, dass es keinen Weg zurück gab. Sie hatte die Wahrheit gesehen – jetzt musste sie den Schatten finden und das Herz des Winters zurückholen.

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